Im September 2000 bildete der UN-Millenniumsgipfel in New York den Höhepunkt der in den 1990er Jahren organisierten acht großen Weltkonferenzen, darunter der Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992, der Weltsozialgipfel in Kopenhagen, die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 und der Welternährungsgipfel in Rom 1996.
Am Weltsozialgipfel verpflichteten sich die Teilnehmerstaaten dazu, das „Ziel der weltweiten Armutsbeseitigung durch entschiedenes nationales Handeln und internationale Zusammenarbeit zu verfolgen“. Im selben Jahr präzisierte der Entwicklungshilfe-Ausschuss der OECD die Absichtserklärung des Weltsozialgipfels und nannte erstmals konkret als Ziel die Halbierung des Anteils der absolut Armen bis zum Jahr 2015.
Am New Yorker Millenniumsgipfel wurden die zentralen Inhalte der während dieser Dekade formulierten Deklarationen zur „Millenniumserklärung“ zusammengeführt. Armutsbeseitigung, Friedenserhaltung und Umweltschutz wurden als die vordringlichsten Aufgaben der internationalen Gemeinschaft im neuen Jahrhundert bestätigt. Die Vereinten Nationen, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank sowie die OECD einigten sich in der Folge auf der Grundlage des Kapitels „Entwicklung und Armutsbeseitigung“ der Deklaration auf eine Liste von Entwicklungszielen in Form von acht Haupt- und 18 Teilzielen sowie 48 Indikatoren (siehe S. 5). Damit wurde erstmals auf internationaler Ebene ein gemeinsamer Zielkatalog mit konkreten Zeitvorgaben geschaffen. Die Millennium Development Goals (MDGs) werden heute sowohl von offizieller Seite als auch von zahlreichen Akteuren der Zivilgesellschaft als Rahmen für entwicklungspolitische Strategien anerkannt.
Die Überprüfbarkeit der Ziele 1-7 durch konkrete Prozentsätze und Zeitangaben wird weithin als Fortschritt betrachtet. Das achte Ziel benennt die Verpflichtungen der Industrieländer. Diese beinhalten gesteigerte Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit, vermehrten Schuldenerlass, eine Erweiterung des Marktzuganges und verbesserten Zugang zu Technologien für die Entwicklungsländer. Auffallend ist, dass dieses Kapitel als einziges weder zeitliche noch quantitative Zielvorgaben enthält. Zur öffentlichen Verbreitung der MDGs wurde von den Vereinten Nationen eine Millenniumskampagne initiiert, koordiniert von der beliebten ehemaligen niederländischen Entwicklungsministerin Eveline Herfkens (siehe Interview auf Seite 10).
Zahlreiche Prominente wie die Fußballstars Zidane und Ronaldo, die Schauspieler Omar Sharif und Gérard Depardieu, die Schriftstellerin Nadine Gordimer oder die Musikgruppe UB 40 setzen sich und ihre Namen für die Umsetzung der Ziele ein. Dennoch ist bezüglich des Bekanntheitsgrades außerhalb entwicklungspolitisch interessierter Kreise Bescheidenheit angebracht: Auch wenn die MDGs auf 500.000 Suchmaschinentreffer im Internet kommen, beträgt laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage der durchschnittliche Bekanntheitsgrad der MDGs in der EU nur 12% – mit starken Variationen zwischen 4% in Frankreich und 27 % in Schweden, wo die Regierung eine MDG-Kampagne durchgeführt hat. In Österreich geben 18% der Bevölkerung an, von den MDGs bereits gehört zu haben; die EU-Studie gibt als Grund die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in diesem Bereich an.
Sowohl der im Jänner 2005 erschienene MDG-Bericht des UN-Sonderberaters Jeffrey Sachs als auch der jüngste Fortschrittsbericht des UN-Generalsekretärs stimmen für die Erreichung der MDGs nicht gerade optimistisch. Abgesehen von Südostasien und Nordafrika gibt es in den übrigen Regionen geringe Fortschritte zu verzeichnen. Besonders in Afrika südlich der Sahara, wo 34 der 50 ärmsten Länder der Welt liegen, sind die Trends teilweise sogar negativ. Nach derzeitiger Sachlage kann diese Region das Ziel eins der Reduktion der absoluten Armut frühestens im Jahr 2147 realisieren. Besonders prekär ist die Situation bei der Nahrungsmittelversorgung: Die produzierte Menge an Nahrungsmitteln pro Kopf hat in dieser Region seit 1980 abgenommen, der Grund sind fehlende Investitionen, ungerechte Landverteilung und übernutzte Böden.
Bei den restlichen Zielen gibt es unterschiedliche Erfolge. Die Einschulungsraten – besonders jene der Mädchen – haben sich in den meisten Regionen verbessert. Ausgenommen davon sind wieder Afrika südlich der Sahara sowie Südasien. Die Zielsetzungen für mehr Geschlechtergerechtigkeit werden in den meisten Regionen klar verfehlt. So konnte weder eine gerechtere Einkommenssituation zwischen Männern und Frauen noch eine gestiegene Vertretung von Frauen in politischen Entscheidungsgremien erreicht werden.
Besonders besorgniserregend ist die Verfehlung der Zielsetzungen im Bereich der Seuchenbekämpfung. Die Anzahl der mit HIV/AIDS infizierten Menschen steigt weltweit weiter an, in letzter Zeit auch verstärkt in Osteuropa und Südasien. Von jährlich geschätzten 2,9 Millionen AIDS-Toten entfallen 2,2 Millionen auf Afrika südlich der Sahara; bis zu 39% der schwangeren Frauen zwischen 15 und 24 sind dort mit HIV/AIDS infiziert. Die jährlich benötigten Ausgaben für AIDS-Bekämpfung von 20 Mrd. US-Dollar werden von der internationalen Gebergemeinschaft nicht annähernd erreicht: 2003 wurden nur knapp 5 Mrd. Dollar aufgewendet.
Auch im Bereich von Malaria und Tuberkulose gibt es keine Anzeichen einer Verbesserung. Für Krankheiten, von denen 90% der Weltbevölkerung betroffen sind, werden jährlich nur 10% der weltweiten Forschungsausgaben aufgewendet. Stattdessen fließen die Gelder in lukrativere Märkte: Die Entwicklung von Pharmazeutika gegen das Altern, Impotenz und Übergewicht ist profitträchtiger.
Die Zwischenbilanz, die der Fortschrittsbericht des UN-Generalsekretärs zur Einhaltung der Verpflichtungen der Industrieländer unter Ziel 8 der MDGs zieht, zeugt von großem Nachholbedarf. Es wird geschätzt, dass – auch wenn die Entwicklungsländer ihr Bestes in der nationalen Politik und Ressourcenaufbringung geben – eine Verdoppelung bis Verdreifachung der Entwicklungsfinanzierung notwendig ist, um die MDGs zu erreichen. Durch in den letzten beiden Jahren leicht gestiegene EZA-Leistungen konnte der Rückgang der 1990er Jahre noch lange nicht wettgemacht werden. Auch bei den anderen Teilzielen wie Schuldenerlass, Technologietransfer oder der Streichung von Exportsubventionen kritisiert das UN-Entwicklungsprogramm UNDP, dass die Fortschritte bisher sehr marginal waren. „Es ist an der Zeit, dass die Industrieländer ihre Versprechen einlösen.”
Ein neues Entwicklungsparadigma: Die Milleniums-Entwicklungsziele können einerseits als ein Versuch gesehen werden, aus der entwicklungspolitischen Resignation der 1990er Jahre auszubrechen und eine neue Dynamik für konzertierte Aktionen zu erzeugen. Der öffentliche Druck, der durch die unterschiedlichen Kampagnen entsteht, darf nicht unterschätzt werden. Etliche Initiativen, wie z. B. die von Tony Blair zur völligen Entschuldung einer Gruppe von hoch verschuldeten Ländern, sind auch darauf zurückzuführen. Die MDGs können als größter zu erreichender gemeinsamer Nenner gesehen werden, für den unter derzeitigen politischen Kräfteverhältnissen zumindest ein diskursiver Konsens gefunden werden kann. Dabei ist es nun wichtig, die Worte in konkrete Taten münden zu lassen.
Andererseits fügen sich die MDGs auch in das entwicklungspolitische Paradigma der 1990er Jahre: Mit dem Ende der Systemkonkurrenz von Ost und West und durch die vertiefte Weltmarktintegration hat Entwicklungspolitik an Bedeutung verloren – war sie doch konzipiert, um den armen Ländern Wohlstand innerhalb des kapitalistischen Systems in Aussicht zu stellen und die Anbindung an die westliche Welt zu beschleunigen. Im neuen entwicklungspolitischen Diskurs werden nun Eigenverantwortung, gute Regierungsführung und eine Integration in den Weltmarkt zu zentralen Faktoren für Entwicklung stilisiert. So wird man auch im Zusammenhang mit den MDGs nicht müde, immer wieder die Selbstverantwortung der Entwicklungsländer in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. So sieht auch der neueste Bericht des renommierten Ökonomen Jeffrey Sachs (siehe Artikel Seite 12) die Hauptschuld für die bisherige Verfehlung der Millenniumsziele bei Regierungsversagen und mangelndem Problembewusstsein der Entwicklungsländer.
Eigenverantwortlich handeln können die ärmsten Länder allerdings nur innerhalb eines engen Korsetts an wirtschaftspolitischen Vorgaben wie der Außenhandelsöffnung, geschnürt von den Internationalen Finanzinstitutionen und der Welthandelsorganisation (WTO). Dabei wird beständig ignoriert, dass kein einziges heute reiches Land die politischen Strategien, die Entwicklungsländern empfohlen werden, selbst befolgt hat.
Die MDGs werden weithin anerkannt als ambitioniertes und unterstützenswertes Vorhaben. Und wenn diese erreicht werden, wäre dies ein großer Erfolg. Dennoch ist auf unterschiedlichen Ebenen Kritik an den MDGs angebracht.
Eine Ebene der Kritik an den MDGs betrifft die Formulierung der Indikatoren: So können bei manchen Indikatoren Rückschritte festgestellt werden. So wurde etwa beim Welternährungsgipfel in Rom 1996 als Ziel die Halbierung der Anzahl der unterernährten Menschen formuliert – bei den MDGs ist es nur noch der Anteil der Bevölkerung. Wenn die Bevölkerung zunimmt, kann der Anteil der Armen zwar zurückgehen, die Anzahl aber weiter ansteigen.
Häufig wird auch die willkürliche Festsetzung sowie die Unzulänglichkeit der Armutsgrenze von 1 Dollar pro Tag bemängelt: Diese trage zwar zur internationalen Vergleichbarkeit bei, stehe aber teilweise in keinem Zusammenhang mit nationalen Armutsgrenzen. Durch die rein monetäre Definition werden zudem viele Aspekte von Armut, wie Zugang zu öffentlichen Gütern oder Benachteiligung bestimmter Gruppen in der Gesellschaft ausgeblendet.
Die zweite Ebene betrifft den Top-down-Ansatz der MDGs und die fehlende Einbeziehung der Zielgruppen, also armer Menschen und Gemeinschaften in die Formulierung der Ziele und Bedürfnisse sowie in die Implementierung der Maßnahmen zur MDG-Erreichung. Durch die starke Konzentration auf Indikatoren besteht die Gefahr, dass Entwicklungen, die nicht so leicht messbar sind wie größere politische Teilhabe und Rechte von marginalisierten Gruppen, vernachlässigt werden.
Die dritte Ebene der Kritik bezieht sich auf das Fehlen von Zielformulierungen, welche die strukturellen Ursachen von Armut betreffen: Die Vielfalt der Themen, die auf den Weltkonferenzen der 1990er Jahre behandelt wurden und Eingang in die Millenniumserklärung fanden, ist bemerkenswert. Bemerkenswert ist aber gleichzeitig auch die Tatsache, dass das Thema Weltwirtschaft systematisch ausgespart wurde. Im Unterschied zu den UNO-Konferenzen der 1970er Jahre, bei denen es vor allem darum ging, konkrete Verhandlungsprozesse über eine Neuordnung der Weltwirtschaft zu initiieren, ist bei der „zweiten Generation“ der Weltkonferenzen genau diese Frage vernachlässigt worden.
Durch die starke Konzentration auf die Armutsindikatoren kommen zahlreiche grundlegendere Fragen zu kurz: die massive Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, die zunehmende Machtkonzentration in Händen von wenigen Akteuren, die stark schwankenden Rohstoffpreise, instabilen Finanzmärkte, die Auswirkungen des Standortwettbewerbs mit seinem schädlichen Wettlauf nach unten bei Steuern, Sozial- und Umweltstandards. Nachhaltige Armutsbekämpfung kann nicht durch eine Wirtschaftspolitik vollzogen werden, die strukturell die Schwächsten der Gesellschaft benachteiligt. So hat gerade die Außenhandelsliberalisierung und Konzentration auf Exporte in den ärmsten Ländern Krisen und steigende Armutszahlen verursacht.
Beispiel Kaffee: Durch die zunehmend oligopolistische Situation auf dem Kaffeemarkt kam es im letzten Jahrzehnt zu einer völligen Abkoppelung der Rohstoff- von den Endverbraucherpreisen. Betrugen die Exporteinnahmen aus Kaffee für die Erzeugerländer 1990 noch ein Drittel der Einzelhandelsumsätze, ist dies heute weniger als ein Zehntel: Von einem Kaffeeumsatz von 70 Mrd. Dollar entfallen nur 5 Mrd. auf die Produzenten. Während Firmen wie Nestlé, Tchibo & Co Rekordgewinne machen und ihre Steuerbeiträge in Steueroasen „optimieren“, sehen 125 Millionen vom Kaffeeanbau abhängige Menschen durch die sinkenden Einnahmen ihre Existenzgrundlage gefährdet. Dass Armutsminderung so zur Symptombekämpfung verkommt, wird in den offiziellen Deklarationen nicht angesprochen.
Die Formulierung und Kampagnisierung der MDGs ist ein wichtiger Beitrag, um die fortdauernde Armut und Ungleichheit wieder auf die internationale Agenda zu rücken. Eine Umsetzung der Verpflichtungen, die die Industrieländer in Ziel 8 eingegangen sind, wäre ein bedeutender Schritt vorwärts. Eine Verfehlung der Ziele würde die Legitimationskrise der Entwicklungspolitik weiter verstärken. Um die Anstrengungen zu unterstützen und in eine gerechtere Weltgesellschaft münden zu lassen, fordern KritikerInnen die Erweiterung der Milleniumsziele um einige Punkte:
Eine Verringerung der Einkommens- und Vermögensungleichverteilung um 50% bis zum Jahr 2015; Steuergerechtigkeit – wie z.B. die Abschaffung aller Steueroasen und die Einführung einer einheitlichen Konzernbesteuerung bis 2015; eine Evaluierung der bisherigen Welthandelspolitik und grundlegende Reform in Richtung mehr Armutsminderung und Ernährungssouveränität; Mittel für Entwicklungszusammenarbeit in Höhe von 0,7% des Bruttonationaleinkommens bis 2015 (dies schlägt z.B. Jeffrey Sachs als Aufnahmekriterium für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat vor); ein Ende der von multi- und bilateralen Gebern an Entwicklungszusammenarbeit gebundenen wirtschaftlichen Konditionalitäten bezogen auf Privatisierung und Öffnung des Außenhandels und der Kapitalmärkte; eine umfassende Entschuldung durch die Einführung eines unabhängigen Staateninsolvenzverfahrens.
Es wird nicht so einfach sein, für diese Zielerweiterung einen Konsens zu erzielen. Wichtig ist es, den Blick nicht nur auf Armut, sondern auch auf Reichtum und Verteilung zu richten, aus ethischer aber auch aus pragmatischer Sicht: Je ungleicher die Einkommensverteilung, desto weniger trägt Wachstum zur Armutsminderung bei.
Armutsminderung ist mehr als eine technische Herausforderung der Entwicklungsagenturen. Es geht um eine Neugestaltung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf globaler Ebene. Es geht um die Umverteilung von Ressourcen und von Macht. Es geht um das Transparent-Machen von Interessen und Einfluss auf Politik. Es ist dringend notwendig, diese Fragen zu diskutieren und in politische Strategien münden zu lassen.